Wohnen ist Menschenrecht

Mindestens 607.000 Menschen in Deutschland wohnungslos

Berlin. 07.11.2023. Zum Auftakt ihrer diesjährigen Bundestagung, die vom 08. bis 11. November 2023 in Berlin stattfindet, stellt die BAG Wohnungslosenhilfe (BAG W) ihre aktuelle Hochrechnung zur Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland vor. Die BAG W ist der bundesweite Dachverband der Dienste und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfen in Deutschland.

Die aktuelle Hochrechnung der BAG W umfasst Gesamtwerte für die Jahre 2022 und 2021. Zusätzlich werden Werte für den Stichtag 30. Juni der beiden Jahre angegeben. Die Hochrechnung der BAG W enthält somit neben der Stichtagszahl auch eine Jahresgesamtzahl, mit der auch die Menschen erfasst werden, die vor bzw. nach dem Stichtag wohnungslos waren, es aber zum Stichtag nicht sind. Deshalb liegt eine Jahresgesamtzahl immer deutlich höher als eine Stichtagszahl.

Ergebnisse:

Im Verlauf des Jahres 2022 waren in Deutschland demnach 607.000 Menschen wohnungslos. Davon lebten ca. 50.000 ganz ohne Unterkunft auf der Straße. Zum Stichtag 30.06.2022 waren laut Hochrechnung der BAG W 447.000 Menschen wohnungslos (s. Abb.1 & 2).

Zum Stichtag 30.06.2021 hat die BAG W die Zahl von 268.000 wohnungslosen Menschen ermittelt. Die Jahresgesamtzahl für 2021 liegt laut BAG W-Hochrechnung bei 383.000 wohnungslosen Personen.

Aus den Zahlen ergibt sich ein Anstieg der Stichtagszahl von 2021 zu 2022 um 67 % und der Jahresgesamtzahl um 58 % (s. Abb. 1). Eine Differenzierung bei den Stichtagszahlen zwischen deutschen und nicht-deutschen Wohnungslosen zeigt zudem deutliche Unterschiede. Bei den deutschen Wohnungslosen ergibt sich ein Anstieg von 5 %, bei den nicht-deutschen um 118 %. Letzteres ist insbesondere auf die enorme Zunahme der Zahl wohnungsloser Geflüchteter, ganz besonders aus der Ukraine, zurückzuführen.

Entsprechend der gesetzlichen Verpflichtung führt das Statistische Bundesamt jährlich zum Stichtag 31.01. eine Erhebung über die institutionell untergebrachten wohnungslosen Personen durch. Dies ist eine wichtige Erhebung, die von der BAG W und anderen Sozialverbänden seit Jahrzehnten gefordert worden war. Eine Hochrechnung der BAG W ist trotz der Bundesstatistik weiter erforderlich, da das Statistische Bundesamt zum Stichtag 31.01.2023 nicht die Menschen zählt, die bei Freund:innen oder Bekannten unterkommen oder auf der Straße leben.

Dies führt zu einer unvollständigen Darstellung des Ausmaßes der Wohnungslosigkeit in Deutschland und zu einer Verzerrung der soziostrukturellen Merkmale der von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen. Darüber hinaus beschränkt sich das Statistische Bundesamt auf die Stichtagszahlen. Die BAG W ermittelt hingegen auch Jahresgesamtzahlen, die das gesamte Ausmaß der Wohnungslosigkeit besser abbilden.

Das Statistische Bundesamt hatte zum Stichtag 31.01.2023 eine Zahl von 372.000 untergebrachten wohnungslosen Menschen gezählt. Die Differenz der jeweiligen Stichtagszahlen von 75.000 wohnungslosen Menschen zwischen der Hochrechnung der BAG W und den Zahlen des Statistischen Bundesamtes ergibt sich daraus, dass die BAG W in ihre Hochrechnung auch die wohnungslosen Menschen inkludiert, die vorübergehend bei Freund:innen und Verwandten unterkommen und diejenigen, die ganz ohne Unterkunft – also obdachlos – auf der Straße leben.

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Hintergrund:

Entsprechend der gesetzlichen Verpflichtung führt das Statistische Bundesamt jährlich zum Stichtag 31.01. eine Erhebung über die untergebrachten wohnungslosen Personen durch. Darüber hinaus ist die Bundesregierung verpflichtet alle zwei Jahre über den Umfang der Wohnungslosigkeit der Menschen ganz ohne Unterkunft und der bei Freund:innen und Bekannten vorübergehend Untergekommenen zu berichten. Diese begleitende Berichterstattung ist in 2022 vorgelegt worden. Der Bund hat somit zum 31.01.2022 die Zahl von 263.000 wohnungslosen Menschen ermittelt.

Die BAG W kommt in ihrer Hochrechnung zum Stichtag 30.06.2021 auf 268.000 wohnungslose Menschen. Aus statistischer Sicht sind die Abweichungen der Hochrechnung 2021 der BAG W von den Zahlen der Wohnungslosenberichterstattung des Bundes mit einem Plus von ca. 5.000 Personen nur minimal. Die Hochrechnung der BAG W ist mit der Bundesstatistik vergleichbar, weil die BAG W-Hochrechnung auf der Basis der NRW-Wohnungslosenberichterstattung mit dem Stichtag 30. Juni des Vorjahres erfolgt und mithin nur sieben Monate vom Erhebungszeitpunkt der Bundesstatistik entfernt liegt, der auf den 31. Januar des Folgejahres fällt. Das bedeutet, dass die Hochrechnung der BAG W trotz einer zeitlichen Differenz von ca. sieben Monaten das Ergebnis von Bundesstatistik und begleitender Berichterstattung gut abbildet.

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Struktur der Wohnungslosigkeit

Die folgenden Werte beziehen sich auf den Stichtag 30.06.2022:

In der Hochrechnung der BAG W am Stichtag 30.06.2022 liegt der Anteil der deutschen wohnungslosen Personen bei 29 % und der Anteil der nicht-deutschen bei 71 %. Bei der Erhebung des Statistischen Bundesamtes zum Stichtag 31.01.2023 machen Deutsche 16 % der Wohnungslosen aus. Diese Differenz ist darauf zurückzuführen, dass das Statistische Bundesamt in 2023 ausschließlich die Zahl institutionell untergebrachter wohnungsloser Menschen erhoben hat. Bei der großen Mehrheit der untergebrachten Wohnungslosen handelt es sich um Geflüchtete aus der Ukraine, Syrien, Afghanistan und Irak.

Die Differenz bei der Kategorie „Staatsangehörigkeit“ erklärt auch die Unterschiede zwischen der Hochrechnung der BAG W und der Stichtagszahl des Statistischen Bundesamtes in Bezug auf die Haushaltsstruktur, das Alter und das Geschlechterverhältnis.

36 % aller Wohnungslosen leben in Einpersonenhaushalten, 64 % in Mehrpersonenhaushalten leben (s. Abb. 3).

In ihrer Hochrechnung stellt die BAG W fest, dass bei den deutschen Wohnungslosen der Anteil der Einpersonenhaushalte mit ca. 58 % deutlich höher liegt als bei den Nicht-Deutschen (27 % Einpersonenhaushalte, s. Abb.4). Bei den wohnungslosen Menschen mit nicht-deutscher Staatsbürgerschaft sind vor allem Familien von Wohnungslosigkeit betroffen.

26 % aller wohnungsloser Personen sind Kinder oder Jugendliche (vgl. Abb. 5). Bei den deutschen Wohnungslosen liegt der Anteil der Minderjährigen bei knapp 9 %, bei den Nicht-Deutschen bei knapp 34 % (Abb. 6).

Unter den Volljährigen sind 58 % männlich, 42 % weiblich. Das Geschlechterverhältnis unterscheidet sich zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen ebenfalls erheblich. Von den deutschen volljährigen Wohnungslosen sind 72 % männlich und 28 % weiblich, bei den nicht-deutschen Personen ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichen: 50 % männlich, 50 % weiblich.

Armut, Wohnungsmangel, Flucht – Gründe der Wohnungslosigkeit

Für Wohnungslose mit deutscher Staatsbürgerschaft zeigen die Daten aus dem Dokumentationssystem zur Wohnungslosigkeit (DzW) der BAG W: Insgesamt 57 % verlieren die Wohnung aufgrund einer Kündigung (1). Weitere wichtige Auslöser waren mit 21 % Miet- und Energieschulden, mit 20 % Konflikte im Wohnumfeld sowie mit 16 % Trennung/Scheidung. Nicht-deutsche Wohnungslose hatten mehrheitlich in Deutschland noch nie eine Wohnung. Der Hauptauslöser ist ihre Flucht.

Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe: „Inflation, gestiegene Kosten und steigende Mieten belasten einkommensschwache Haushalte in Deutschland. Dies führt zu (Energie-)Armut, Mietschulden und Wohnungsverlust. Besonders gefährdete Gruppen sind einkommensarme Ein-Personen-Haushalte, Alleinerziehende und kinderreiche Paare. Auch Beratungsstellen verzeichnen eine steigende Nachfrage, während der verfügbare und bezahlbare Wohnraum abnimmt.

Der fehlende bezahlbare Wohnraum ist und bleibt der Hauptgrund für die Wohnungsnot in Deutschland: Deutsche wie nicht-deutsche Wohnungslose können daher nicht angemessen mit eigenem bedarfsgerechtem Wohnraum versorgt werden.“

Durch das sukzessive Auslaufen von Sozialbindungen bei gleichzeitig niedrigen Neubauraten sinkt der Anteil der verfügbaren Sozialwohnungen dramatisch – nach Berechnungen der BAG W seit 1989 um ca.1.801.000 Wohnungen (-62,3 %) auf aktuell ca. 1.088.000 (vgl. Abb. 7). Sie fehlen dauerhaft für eine soziale Wohnraumversorgung.

Nationaler Aktionsplan zur Überwindung der Wohnungslosigkeit bis 2030

Die Bundesregierung hat sich mit dem „Nationalen Aktionsplan“ zum Ziel gesetzt, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Der Anstieg der Jahresgesamtzahl der Wohnungslosen um 58 % von 2021 auf 2022 zeigt welche Kraftanstrengungen für die Realisierung des Ziels notwendig sind.

Werena Rosenke: „Mit 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr – wie von der Ampelregierung versprochen – kann dem Mangel an bezahlbaren Wohnungen nicht ausreichend entgegengesteuert werden. Zusätzlich zu den Sozialwohnungen werden weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen benötigt. Entstanden sind in den letzten Jahren jeweils nur ca. 25.000 neue sozialgebundene Wohnungen, die nicht einmal das Abschmelzen des Sozialwohnungsbestandes durch Auslaufen der Bindungen kompensieren können. Benötigt wird ein Wohnungsbestand mit dauerhaften Sozialbindungen. Deswegen muss die Bundesregierung – wie beim Wohnungsgipfel im Kanzleramt angekündigt – die Neue Wohngemeinnützigkeit jetzt einführen.

Bezahlbarer Wohnraum ist zwar eine Voraussetzung für die Überwindung von Wohnungslosigkeit, aber es bedarf gezielter Maßnahmen, um wohnungslose Menschen wieder in eine eigene Wohnung zu bringen, denn oft sind sie Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt. Nötig sind deshalb Bindungen und Quotierungen für Wohnungslose im Sozialwohnungsbestand sowie die gezielte Akquise von Wohnungsbeständen bei privaten Vermietern und der Wohnungswirtschaft.

Nach einem Wohnungsverlust werden Einzelpersonen und Familien in den Unterkünften der Gemeinden nach Ordnungsrecht untergebracht. In diesen Unterkünften, die z. T. in einem schlechten Zustand sind, besteht die große Gefahr, dass sich Wohnungslosigkeit chronifiziert. Außerdem ist der Unterbringungssektor sehr kostspielig. Schon seit vielen Jahren fordert die BAG W, diese Schlichtwohnungen und Notunterkünfte zu sanieren, in Sozialwohnungen umzuwandeln und wohnungslose Haushalte somit in den allgemeinen Sozialwohnungsbestand zu integrieren.

Zusätzliche Wohnungen für Wohnungslose lassen sich auch dadurch erschließen, dass die Richtwerte für die Kosten der Unterkunft (KdU) bei wohnungslosen Haushalten deutlich überschritten werden können.“

Prävention stärken!

Es müssen alle möglichen Maßnahmen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit ergriffen werden, denn die Verhinderung der Wohnungslosigkeit ist die beste Hilfe.

Werena Rosenke: „Ein Leichtes wäre es, die Mietschuldenübernahme im SGB II wie im SGB XII als Beihilfe vorzusehen. Darüber hinaus muss durch den Gesetzgeber dringend klargestellt werden, dass wie im Koalitionsvertrag vereinbart bei einer Mietschuldenbefriedigung nicht nur die außerordentliche Kündigung des Mietverhältnisses, sondern auch die ggf. hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung geheilt ist.

In jede Kommune und jeden Landkreis gehört eine Zentrale Fachstelle zur Verhinderung von Wohnungsverlusten. Der Aufbau effizienter Präventionsstrukturen sollte dringend durch entsprechende Förderprogramme des Bundes unterstützt werden.

Dies wären sehr wichtige konkrete Maßnahmen im Rahmen des Nationalen Aktionsplans zur Überwindung der Wohnungslosigkeit bis 2030.“