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Aktualisierte Umfrage Herbst 2020: Corona und die Auswirkungen auf Menschen in Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit und auf das Hilfesystem

Um ein aktuelles Bild der Lage zeichnen und genauere Aussagen treffen zu können, hat die BAG W kurz vor Verhängung des zweiten Lockdowns und zu Beginn des Winters eine Online-Erhebung durchgeführt.

Am 30. Oktober 2020 wurde der Erhebungsbogen an ca. 1.500 Dienste und Einrichtungen (weit überwiegend der freien Träger der Wohnungslosenhilfe) verschickt. Bis Mitte November 2020 lag der Rücklauf bei knapp 500 Erhebungsbögen, mit Angaben zu knapp 1.600 Diensten und Einrichtungen aus mindestens 15 Bundesländern.

 

Umfrage (Mai 2020): Corona und Wohnungslosigkeit

Am 17.03.2020 hat die Geschäftsstelle der BAG W einen kurzen Fragebogen „CORONA und Wohnungslosigkeit“ an die 940 Mitglieder und Mitgliedseinrichtungen verschickt, um Informationen zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf die Klientinnen und Klienten, zur Situation vor Ort in den Diensten und Einrichtungen und zum Wohlergehen der Mitarbeitenden zu erlangen.

Inzwischen haben 92 Einrichtungen und Dienste den Fragebogen zurückgeschickt. Damit verfügen wir aktuell (05.05.2020, 15:00 Uhr) über Informationen aus 73 Kommunen aus den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein sowie aus den Stadtstaaten Berlin und Hamburg.

Erste Ergebnisse einer Umfrage bei den Mitgliedern und Mitgliedsorganisationen der BAG W

Große Sorge um die Mitarbeitenden, die Klientinnen und Klienten und die mögliche Gefährdung der Einrichtungen und Dienste

In vielen Punkten herrscht bei den Diensten und Einrichtungen Ratlosigkeit und große Sorge um die Mitarbeitenden und die Betroffenen und um die Existenz der Einrichtungen. Es wird Unverständnis darüber geäußert, dass Politik und Verwaltungen zu wenig oder nichts dafür tun, um die wohnungslosen Menschen adäquat zu schützen.

Für viele gilt: Die Steuerung durch die Verwaltung ist mangelhaft;  Informationen werden nicht zentral gesammelt und verteilt. Jeder muss sich die Informationen selber besorgen. In den Behörden werden Termine abgesagt und der Publikumsverkehr eingeschränkt. Für die Betroffenen habe das die Situation noch einmal verschärft und für weitere Verunsicherung gesorgt.

Der Versuch die  Hilfeangebote möglichst aufrecht zu erhalten, bedeutet für Mitarbeitende eine teilweise extrem hohe Belastung.

Es herrscht ein großer Mangel an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Diese sind in vielen Fällen kaum mehr vorhanden und auch nicht mehr zu beschaffen. Es ist deshalb für viele Einrichtungen und Dienste vollkommen unverständlich, dass der gesamte Bereich der Wohnungslosenhilfe, insbesondere die stationären Einrichtungen und die Notschlafstellen, Tagestreffs und niedrigschwelligen Versorgungsangebote nicht den systemrelevanten Bereichen zugeordnet werden.

Es wird befürchtet, dass die Krise noch über Wochen andauert, und sich die finanzielle und die Versorgungssituation  der auf der Straße Lebenden weiter verschlechtert. Es wird darauf hingewiesen, dass die Schließung von Angeboten zu weiteren psychischen und physischen Belastungen der wohnungslosen Menschen führen. Die bereits aktuell beengte Situation in den Unterkünften, die sich wahrscheinlich noch  zuspitzen wird, wird mit Sorge gesehen.

Für viele Einrichtungen und Dienste ist absehbar, dass Engpässe bei der Versorgung der wohnungslosen Menschen  mit Lebensmitteln und bei der medizinischen Versorgung auftreten. Die Etablierung mobiler Versorgungsdienste sehen einige als Möglichkeit dem zu begegnen.

Bürgerinnen und Bürger sollten zur Solidarität mit Wohnungs- und Obdachlosen (z.B. durch Sach-/ Lebensmittelspenden) aufgefordert werden, denn die Betroffenen haben wegen geschlossener Jobcenter Schwierigkeiten ihren Tagessatz zu erhalten.  Das Sammeln von Pfandflaschen und der Verkauf von Straßenzeitungen sind  inzwischen sehr stark eingeschränkt

Die Rückmeldungen zu den einzelnen Fragen der Umfrage lassen sich wie folgt zusammenfassen:

FRAGE: Welche konkreten Maßnahmen zum Schutz der Klientinnen und Klienten werden von öffentlicher Seite (Bundesland / Kommune / Gesundheitsamt) verordnet?

Den Diensten und Einrichtungen liegen dazu häufig keine oder nur unzureichende Informationen vor. Die meisten Dienste und Einrichtungen melden, dass es keine spezifischen Informationen aus den zuständigen Fachbehörden gebe. Der Kontakt zu den Gesundheitsämtern ist im gesamten Bundesgebiet schwierig. Die Hotlines sind hochfrequentiert und für Einrichtugengibt es keine separate Auskunft. Dienste und Einrichtungen bringen zum Ausdruck, dass sie sich alleingelassen fühlen.

Aus Berlin wird rückgemeldet, dass „Maßnahmen nach SGB verwaltungstechnisch stark vereinfacht werden“, „Ämter in Berlin verzichten auf persönliche Kontakte mit den Klienten, auslaufende Kostenübernahmen werden zunächst verlängert.Antragsverfahren werden vereinfacht.“

Auch aus Stuttgart wird gemeldet, dass „fast alles (Anträge/Verlängerungen etc.) ohne persönliche Vorsprache auf den Ämtern, per Telefon erledigt wird.“

Der Märkische Kreis (NRW) meldet ebenfalls, dass „Jobcenter und Agentur für Arbeit ihre Schwellen zum Bezug von Leistungen gesenkt, Mitwirkungspflichten gesenkt, Meldepflichten ausgesetzt und Ermessenspielräume erweitert haben.“

In einigen Kommunen wurden Verbote verhängt: In Dortmund werden alle Tagesaufenthalte mit und ohne Essensausgabe geschlossen, Lunchpakete werden nur noch an einer Stelle in Dortmund ausgegeben. In der Konsequenz muss die Männerübernachtungsstelle einen Tagesaufenthalt in der Einrichtung anbieten; in der Frauenübernachtung gibt es diesen bereits. Auch in Hamburg werden Tagesaufenthalte geschlossen und Klientinnen und Klienten „werden nicht systematisch untergebracht und geschützt.“

Verfügungen zum Betretungsverbot und zum Besuchsrecht sind vom bayrischen Gesundheitsministerium an die stationären Einrichtungen verschickt worden. Auch einzelne Kommunen (bspw. Aachen) haben Besuchsverbote in stationären Einrichtungen verhängt.

FRAGE: Werden die Hilfen im Wohnungsnotfall in Ihrem Bundesland als „systemrelevant“ eingestuft?

In vielen Rückmeldungen wird kritisiert, dass der gesamte Bereich der Wohnungsnotfallhilfe nicht den systemrelevanten Bereichen zugeordnet wird.

Bislang sind nur im Land Brandenburg die Mitarbeitenden der Wohnungslosenhilfe als „systemrelevant“ der „kritischen Infrastruktur“ zugeordnet.

Uneindeutig ist die Zuordnung in Nordrhein-Westfalen:  In der „Leitlinie zur Bestimmung des Personals kritischer Infrastrukturen“ des MAGS wird die Wohnungslosenhilfe nicht genannt.  Im Regelungszusammenhang des Erlasses zu „weiteren kontaktreduzierenden Maßnahmen“ werden die Wohn- und Langzeitwohnangebote aus Sicht des Sozialamtes Münster mit den unter Ziffer 1, Buchstabe c) des Erlasses aufgeführten Einrichtungen gleichgesetzt. Dazu zählen würden dann in Münster das Langzeitwohnen im Ketteler- und Christophorushaus, die stationäre Hilfe nach §§ 67ff. im Christophorushaus, die Pension Plus und die Wohnangebote Wohnen 60plus zählen.

Das Wort "systemrelevant" bestimmt im aktuellen Zusammenhang, welche Berufe als grundsätzlich unverzichtbar für das Gemeinwesen gelten. Es werden also Personengruppen definiert, die beruflich in sogenannten „Kritischen Infrastrukturen“ tätig sind. Die Liste der systemrelevanten Berufe und Berufsgruppen wird von den Bundesländern geführt und kann variieren.

Kritische Infrastrukturen sind gemäß des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI‐Gesetz‐BSIG) wie folgt definiert:

„Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen einträten."

Zumeist sind hier Mitarbeitende von medizinischen Einrichtungen / dem Gesundheitsbereich, der staatlichen Verwaltung, Polizei, Feuerwehr, aber auch aus dem Bereich Ernährung / Hygiene, Transport / Verkehr, Wasser / Entsorgung, Energie, Personennahverkehr, Schulen, Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe, teilweise Medien, etc. gemeint. Diese Aufzählung ist jedoch nicht abschließend.

Aktuell ist eine solche Zuordnung für viele Menschen wichtig, die beispielsweise eine Kindernotbetreuung anfordern. Wer sein Kind aufgrund der Kita- und Schulschließungen nicht betreuen kann und selbst in einem "systemrelevanten" Beruf arbeitet, muss dies in einigen Bundesländern auch vorweisen können, um einen Betreuungsplatz zu erhalten.

FRAGE: Werden Zwangsräumungen z. Zt. ausgesetzt? Wenn ja, gibt es Bedingungen?

Diese Frage der BAG W-Umfrage konnte von fast niemandem beantwortet werden. Lediglich aus Schleswig-Holstein weiß man von einem Erlass der Staatskanzlei vom 14.03.2020 zu berichten, dem zufolge Vollstreckungen, incl. Zwangsvollstreckungen bis zum 19.04.2020 zurückzufahren sind. Allerdings gebe es Ausnahmen.

Die Geschäftsstelle der BAG W hat sich in den letzten Tagen bemüht, zum Thema Zwangsräumungen weitere Informationen zusammenzutragen:

Der Berliner Senat bittet Gerichte um Verzicht von Zwangsräumungen von Mietern während Pandemie. Um den Verzicht auf die Durchführung von Zwangsräumungen von Wohnungen im Falle von Mietrückständen hat Staatssekretärin für Justiz Daniela Brückner den Präsidenten des Kammergerichts Bernd Pickel gebeten. Die Gerichtsvollzieher gehören zu dessen Geschäftsbereich. "Im Einzelfall sollten Zwangsvollstreckungen auf das erforderliche Mindestmaß beschränkt bleiben", sagte der Sprecher der Senatsverwaltung für Justiz Sebastian Brux.  Es gibt inzwischen einige Berichte von Einzelfällen von nicht stattgefundenen Räumungen: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1134451.coronavirus-zwangsraeumung-in-berlin-in-letzter-minute-abgesagt.html

Tatsächlich kommt den Gerichtsvollziehern eine entsprechende Rolle zu. Gerichtsvollzieher handeln bei den ihnen zugewiesenen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gem. § 1 der Gerichtsvollzieherverordnungen selbstständig und unterliegen hierbei zwar der Aufsicht, aber nicht der unmittelbaren Leitung des Gerichts. Auch die Dienstvorgesetzten der Gerichtsvollzieher, die aufsichtführenden Richter der Amtsgerichte, sind unabhängig von Weisungen aus der Politik – seien es die Regierung oder die Parlamente.

Gerichtsvollzieher und Richter haben Beurteilungsspielraum, wie sie mit

  • Zwangsvollstreckungsmaßnahmen umgehen, insbesondere wann sie Zwangsräumungen terminieren, und
  • ob sie Räumungsschutzanträgen stattgeben.

Für von Räumung bedrohte Menschen steht das Rechtsmittel des Räumungsschutzantrages nach § 765 ZPO zur Verfügung, dessen Begründung nun „einfacher“ sein könnte: „Räumung in die Obdachlosigkeit ist momentan aufgrund der Corona-Krise ein noch stärkerer Eingriff in die Grundrechte der / des Betroffenen.“

Der Deutsche  Bundestag müsste eine Änderung der Regelungen der ZPO vornehmen;  z.B. könnten die Regelungen zum Räumungsschutzantrag gemäß § 765 ZPO erweitert werden.

FRAGE: Welche Quarantänevorkehrungen werden für wohnungslose Menschen getroffen? Bspw. Anmietung von Hotel- oder Pensionszimmer / Ferienwohnungen etc.

In vielen Kommunen gibt es bisher wenige Vorkehrungen, um für wohnungslose Menschen Quarantänemöglichkeiten vorzuhalten. Dezidierte Notfallpläne bei einer bestätigten Erkrankung mit Corvid-19 sind nicht bekannt.  In Münster stehen 10 Wohncontainern der Winternothilfe als externe Quarantänestationen zur Verfügung.In Wasserburg ist geplant ein Schülerwohnheim als Quarantänehaus für Wohnungslose zu nutzen. Vereinzelt gibt es Pläne Turnhallen, Hotels und ähnliches zu nutzen. In Berlin sind Quarantänestationen geplant, allerdings – so die Einschätzung – dürfte es schwierig sein, Personal zu finden.

Einzelne Einrichtungen haben Zimmer oder Wohnbereiche mit eigener Küche und Bad geräumt bzw. zu Isolierzimmer und -wohnungen umgewidmet.

Die Angaben zu den FRAGEN:

  • Welche konkreten Maßnahmen zum Schutz der wohnungslosen Menschen haben Sie in Ihren Einrichtungen und Diensten ergriffen? Bleiben die Einrichtungen und Dienste geöffnet / aufrechterhalten?
  • Welche Maßnahmen werden in der ordungsrechtlichen Unterbringung durchgeführt?
  • Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
    1. Kann ein Schutz der Mitarbeitenden sichergestellt werden? Wie?
    2. Ist die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen noch aufrecht zu erhalten?

haben wir in dieser Übersichtstabelle dokumentiert.